Zeitschrift für Kirchengeschichte 2 (1878) pp. 288-291


Der griechische Irenäus und der ganze 
Hegesippus im 16. Jahrhundert. [English]

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Von
Th. Zahn  
in Kiel.

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         Die Hoffnung, dass uns statt der kümmerlichen Fragmente
und der misverständlichen Uebersetzungen, in welchen ein grosser
Teil der ältesten Kirchenliteratur vorliegt, noch einmal Ganzes
und Originales geschenkt werde, ist durch manche Wiederent-
deckung vergrabener Schätze während der letzten dreissig Jahre,
zuletzt noch durch die vollständige Wiederherstellung der Briefe
des Clemens von Rom aufs neue belebt und in dankenswertester
Weise erfüllt worden. Jede Tatsache, welche diese Hoffnung zu
stärken geeignet ist, verdient Beachtung, auch wenn sie nicht
sofort einen Anfang der Erfüllung derselben bietet. Ueber eine
solche Tatsache, welche uns Theologen wahrscheinlich unbekannt
geblieben wäre, wenn nicht mein College Blass mich freundlichst
darauf aufmerksam gemacht hätte, möchte ich hier in Kürze
berichten.

        In der Vorrede zu einer vor zwei Jahren erschienenen Aus-
gabe bisher unedirter Pindarscholien 1) hat der in Athen lebende
Herausgeber Demetrios Ch. Semitelos eine schon elf Jahre früher
in der griechischen Zeitschrift "Pandora" (Bd. 15 , S. 445 f.)

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        1) Πινδάρου σχόλια Πατμιακὰ, νὺν πρῶτον ἀναλώμασι τοῖς τοὺ 
Ἀθηναίου ἐπίχλην περιοδικοὺ συγγράμματος
ἐχδιδόμενα.   Ἀθήνηνσιν
1875. Im Prolog, S. 3-5 findet sich das Mitgeteilte. Der Prolog ist
unterschrieben: Δεμέτριος Χ. Σεμιτέλος.


ZAHN, ZU IRENÄUS UND HEGESIPPUS. 289

 gedruckte Nachricht des Herrn Johannes Sakkelion auf Patmos 1)
wieder abdrucken lassen. Sie bezieht sich auf ein in der Biblio-
thek des dortigen Johannesklosters befindliches Exemplar der
Editio princeps des Pindar, welche Zacharias Kallierges 1515 in
Rom erscheinen liess. Am Rande dieses Exemplares finden sich
die von Sakkelion zum Zweck der Veröffentlichung abgeschriebenen
und nunmehr von Semitelos herausgegebenen Scholien, von zwei
verschiedenen Händen und zwar nach Sakkelions Urteil noch
während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts geschrieben.
Ein Teil dieser Scholien hat die Beischrift Φορτίου, worin Sak-
kelion einen gewissen Ἀλέξανδρος ὁ Φόρτιος erkennt, welcher
fünf griechische Epigramme und zwei italienische Sonette in Ver-
bindung mit den Gedichten Anderer 1555 zu Venedig im Druck
erscheinen liess. Denselben Phortios erklärt Sakkelion aber auch
aus sehr einleuchtenden Gründen, welche zu wiederholen unnötig
scheint, für den Schreiber, welcher die mit seinem Namen be-
zeichneten, aber auch die Mehrzahl der übrigen Scholien an den
Rand jenes 1515 gedruckten Pindar geschrieben und ausserdem
drei Register zu den Scholien hinzugefügt hat. Nach diesen
Mitteilungen fährt Sakkelion folgendermassen fort: Ἐπὶ δὲ τοὺ 
πρώτου ἐξωφύλλου εὕρηται ἀπογραφὴ τῶν ἑξῆς συγγραφέων  :

Ἀρεταὶος Καππαδόκης μὴ λειπόμενος
Μενάνδρου τραγῳδιαι
2)
Εἰρηναίου Ἐπισκόπου Λουγδούνων κατὰ
             αἱρέσεων βιβλία Ε ́
Ἡγησίππου ἀνδρὸς ἀποστολικοὺ βιβλία Ε ́
Ἀμφιλοχίου ἐπισκόπου λόγοι διάφοροι
Γαληνοὺ περὶ ἀποδείξεως βιβλία ΙΔ ́.
Ἀρτεμιδώρου γεωγραφικά.
Ἥρωνος περὶ κενού.

Sakkelion bemerkt nicht ausdrücklich, dass dieses Verzeichnis
von derselben Hand geschrieben sei, welche er für die des Phortios
hält. Aber wenn dies nicht seine Meinung sein sollte, so müsste,
er den andern gleichzeitigen Scholienschreiber für den Urheber
halten. Denn von der Zeit dieser beiden Männer, von der Mitte
des 16. Jahrhunderts an rechnet er, wenn er unmittelbar nach
Mitteilung des Verzeichnisses fortfährt: Μετ' οὐ πολὺ δὲ περιῆλθε
τὸ τεῦχος εἰς τὴν κυριότητα Νικηφόρου Ἱερομονάχου τοὺ Χαρτο-
φύλακος, καθὰ δηλοῖ τὸ ἐπὶ τοῦ προμετωπιδίου φύλλου ἰδιο-
χείρως σεσημασμένον · Νικηφόρου ἱερομονάχου τοῦ

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        1)  Seine dortige Stellung bezeichnet Semitelos nicht und nennt
neben ihm als βιβλιοφύλαξ einen  Ἱερόθεος Φλωρίδης. Tischendorf ,
"Aus dem heiligen Lande", S. 342 bezeichnet Sakkelion als gelehrten
Bibliothekar des Klosters.

        2) Sakkelion fügt in Klammern hinzu: γράφε κωμῳδίαι.


290 ANALEKTEN.

Χαρτοφίλακος. Dieser Nikephoros, über welchen sich Sak-
kelion nähere Mitteilungen vorbehalten hat, ist der eigentliche
Begründer der Klosterbibliothek auf Patmos und war am Ende
des 16. und im Anfang des 17. Jahrhunderts Lehrer, später
Klostervorsteher auf Patmos, zuletzt auch Titularmetropolit von
Laodicea und starb 1628. Fand Nikephoros, wie Sakkelion an-
nimmt, das Verzeichnis schon in dem Buche vor, als er es erwarb,
so wäre das späteste Datum des Verzeichnisses "um 1600".
Hätte Phortios es geschrieben, so könnte es in Italien geschrieben
sein, andernfalls irgendwo auf dem Wege voll der römischen
Druckerei, aus welcher dieser Pindar 1515 hervorging, bis zum,
Patmoskloster; wo er sich seit etwa 1600 befindet. Wir müssen
uns mit der Gewissheit begnügen, dass dieses Verzeichnis, dessen
Wort natürlicherweise um so grösser würde, je später seine Auf-
zeichnung anzusetzen wäre, zwischen 1515 und 1628, wahr-
scheinlich aber zwischen 1550 und 1600 von einem Griechen
auf ein weisses Blatt zwischen Einband und Titel 1) seines Pindar-
exemplars geschrieben wurde. Dieser Grieche muss die von ihm
aufgezählten, zum grossen Teil jetzt verlorenen oder nur frag-
mentarisch erhaltenen Werke jedenfalls in Handschriften gesellen
haben. Wahrscheinlich hat er sie besessen. Was könnte ihn,
sonst zu dieser bunten Zusammenstellung von Büchern veranlasst
haben, welche weder unter sich noch mit dem Inhalt des Bandes,
auf dessen erstes Blatt er ihre Titel eintrug, in einem sachlichen
Zusammenhange stehen? Es ist ein Bücherkatalog oder das Bruch-
stück eines solchen, wie es der Besitzer sich anlegt. Der ver-
schiedenartige Inhalt und der Umfang der genannten Schriften
erfordert, dass sie auf eine ziemliche Anzahl von Codices verteilt
waren. Der Inhalt des einen dieser Codices muss seinem Titel
nicht ganz entsprochen haben, oder der ganze Codex muss aus
der hier katalogisirten Sammlung abhanden gekommen sein, wenn
von dem medicinischen Schriftsteller Aretäus 2) bemerkt wird,
dass er nicht mehr erhalten sei (μὴ λειπόμενος). Um so gewisser,
darf man annehmen, dass die übrigen Codices zur Zeit dieser
Aufzeichnung vorhanden waren (λειπόμενα) und dem Aufzeichner
vollständig zu sein schienen. Der Mann hat schwerlich geahnt,
wie sehr ihn heutige Philologen und Theologen um seinen Reich-
tum würden, zu beneiden haben.

        Er besass, um mich auf das theologisch Wichtige zu be-
schränken, den griechischen Text aller fünf Bücher von Irenäus'
ἔλεγχος καὶ ἀνατροπὴ τῆς ψευδωνύμου γνώσεως, von dessen
Vorhandensein meines Wissens bis jetzt kein Grieche nach Photius

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        1)  So denke ich richtig ἐπὶ τοῦ πρώτου ἐξωφύλλου zu verstehen.

        2)  S. über ihn Pauly's Realencykl., 2. Aufl. I, 1505.


ZAHN, ZU IRENÄUS UND HEGESIPPUS. 291

(cod. 120) zeugte. Denn jener Meletios Syrigos um 1640, dessen
Citat aus Iren. IV Massuet nach einer im Besitze E. Renaudots
befindlichen Handschrift mitgeteilt hat 1), übersetzt aus dem
Lateinischen ins Griechische zurück, wie schon die Benutzung
der Kapiteleinteilung und die Vergleichung mit einem griechisch
erhaltenen Stücke zeigt (Massuet, p. 251). Unser griechischer
Schreiber citirt das Werk ebenso wie z. B. Maximus Confessor
mit dem abgekürzten Titel κατὰ αἱρέσεως 2), welchen Photius
erklärend neben den vollständigeren setzt.

        Noch überraschender ist die Tatsache, dass dieser Grieche
des 16. Jahrhunderts die fünf Bücher des Hegesippus noch ge-
sehen hat, als deren jüngster Zeuge bisher der gewöhnlich dem
6. Jahrhundert zugewiesene Stephanos Gobaros bei Photius (cod.
232) zu gelten hatte. Dass der alte Hegesipp des 2. Jahr-
hunderts gemeint sei, lehrt das Attribut ἀνὴρ ἀποστολικός (cf.
Eus. H. e. II, 23, 3) und die Zahl der Bücher (cf. Eus. IV,.
8, 2 ; 22, 1).

        Wäre als Dritter im Bunde statt des Amphilochius ein
Papias von Hierapolis mit seinen gleichfalls fünf Büchern ge-
nannt, so wäre unsere Verwunderung noch grösser; aber nach
alle dem, was wir erlebt haben, hat niemand ein Recht, die
Hoffnung auf neue Entdeckungen uralter Schätze eitel zu nennen.
Es bleibt nur übrig zu wünschen, dass der Sturm, welcher jetzt
auch über den griechisch redenden Orient dahinfährt, zwar den,
Staub hinwegfege, welcher dort seit Jahrhunderten sich gehäuft
hat, aber nicht die Blätter verwehe, auf welchen er liegt.

      Kiel, im Juni 1877.

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        1)  Irenaei opera Par. 1710, p. CLXVI.

        2)  Cf. Euseb. H. e. III, 23, 3: πρὸς τὰς αἱρέσεις.

 

Transcribed by Roger Pearse, 2001.  Greek text in unicode.


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